Unter dem Titel AVA – Artificial V Art vereint das Programm Filme, welche nicht ohne die künstlichen Prozesse der KI auskommen, sie als Thema aufgreifen oder durch sie produziert wurden und dennoch als filmische Kunstform für sich stehen können. Kunst und Künstlichkeit scheinen sich gegenseitig zu bedingen und eröffnen dadurch einen neuen Zugang zu den Fragen um Urheberschaft und die Definition von Kunst. Das Programm bildet somit gleichzeitig eine Einladung zum Diskurs und zur Sensibilisierung über aktuelle technologische Entwicklungen und deren kreatives Potenzial. Die filmischen Qualitäten von Schönheit und technischer Innovation scheinen folglich aneinandergekoppelt, liegen sie doch beide im Auge der Betrachtenden.
Seit jeher ist es ein Merkmal des Animationsfilms, dass er neue Welten schaffen kann, ohne hierfür notwendigerweise auf Materialien, Gestalten und andere Aspekte unserer realen Welt zurückgreifen zu müssen. Der Animationsfilm könnte somit als „künstlich“ bezeichnet werden, ohne dabei jedoch an künstlerischem Wert einzubüßen. Im Gegenteil: gerade die Verwendung neuer und ungewohnter Techniken und Mittel verleiht dem Animationsfilm seinen besonderen Reiz und eben jene Fähigkeit, dem Publikum neue Welten zu offenbaren, neue Perspektiven anzubieten und bekannte Sehgewohnheiten somit immer wieder herauszufordern.
Gerade durch das Künstliche erzeugt der Animationsfilm also jene Qualitäten, welche der Kunst seit jeher eigen sind. Wie das vorliegende Programm beweist, gehört auch der Bereich der künstlichen Intelligenz zu den künstlerischen Mitteln des Animationsfilms: die Verwendung von LiDAR-Sensoren autonomer Fahrzeuge als Kameras lässt das Publikum die Welt aus neuen, künstlichen Perspektiven sehen (Baggage Man, 2015) und künstliche Sprachmodelle leiten diesen Blick als neue Erzähler*innen (Galaxy, 2020) auf Szenarien, welche immer mehr dem Ungewohnten und Zufälligen entspringen (Fest, 2018).Die Methodik des Animationsfilms vermag es somit auch umgekehrt, dem Künstlichen Künstlerisches abzugewinnen und in technischer Innovation kreative Potenziale zu wecken.
Doch mit immer größerem Einzug der KI in den Animationsfilm scheinen auch dessen künstliche Welten immer surrealer zu werden, dem menschlichen Auge neuartig bis fremd, sind sie doch nicht mehr rein menschlichen Ursprungs. Ohne jene menschliche Ebene zum Vergleich, entziehen sich allmählich auch die Bewertungsmaßstäbe für das Erlebte und es bleibt die Frage, wie viel künstlerisches Potenzial im Künstlichen steckt oder ob es überhaupt Kunst dadurch geben kann? Wie beurteilen wir AIVA’s Kunstwerk, empfinden wir die Freude des Autos in AUTO NOM als authentisch? Dies sind Fragen nach dem Wesen der Kunst selbst.
Vielleicht bedarf es zur Beantwortung aber auch nicht nur Lösungen aus der Kunst, sondern auch aus der KI: der Turing-Test beispielsweise besagt, dass es mehr auf die Qualität im Austausch zwischen Rezipient*innen ankommt, wenn der Vergleich zwischen menschlich und künstlich nicht mehr hält. Nehmen wir die Rezeption der Filme des vorliegenden Programms also als Rezeption von Kunstwerken wahr oder von etwas anderem? Und wenn es für uns Kunst ist, würden die unterschiedlichen Ursprünge dann überhaupt noch einen qualitativen Unterschied in ihrer Rezeption ausmachen? Auch ein Mensch wie Jackson Pollock hätte womöglich nie einen Pinselstrich gesetzt, hätte er zu viel nachgedacht und den Zufall und das Unbekannte ausgeschlossen. Kunst scheint somit gleichermaßen im Auge der menschlichen und künstlichen Betrachtenden zu liegen. Diesen Perspektivwechsel durch die Sensibilisierung für die kreativen Potenziale künstlicher Prozesse einzugehen sowie die Legitimität künstlicher Prozesse als künstlerisch Schöpfender kritisch zu beleuchten, ist Herausforderung und Aufgabe des Filmprogramms.
Yannick Tessenow